Mujinga Kambundji

Welche Schweizer werden in Tokio den Olymp besteigen?

Delegationsleiter Ralph Stöckli zufolge will die Schweiz bei den Ende Juli beginnenden Olympischen Spielen wenigstens sieben Medaillen holen, also mindestens ebenso viele wie vor vier Jahren in Rio. In diesem Artikel blicken wir zurück auf die Geschichte unserer letzten Medaillen und befassen uns mit der Frage, in welchen Disziplinen die Schweiz die besten Chancen hat.

Vor 25 Jahren, am 31. Juli 1996, gewann der Waadtländer Radsportler Pascal Richard mit dem Olympiasieg im Strassenrennen in Atlanta die grösste Trophäe. «Wer diesen Titel holt, geht für immer in die Geschichtsbücher ein. Das ist der Traum eines jeden Sportlers», sagt der heute 57-Jährige. In Atlanta triumphierte er in einem Teilnehmerfeld, in dem sich Stars wie Armstrong, Indurain und Cippolini tummelten. Er erinnert sich an diesen Showdown, als wäre es gestern gewesen. «Einen Kilometer vor dem Ziel setzte sich der Däne Sörensen ab, doch der Italiener Sciandri und ich konnten ihm folgen. Nach einem letzten leichten Anstieg konnte ich sie im Endspurt schlagen. Die Atmosphäre war fantastisch, so wie man sie aus den USA kennt. Noch immer bekomme ich viel Post und werde um Autogramme gebeten. Man spricht mit Nostalgie über meinen Erfolg.»

Steve Guerdat

Wer von den 116 Schweizer Athletinnen und Athleten, die es in die Auswahl für die Olympischen Spiele vom 24. Juli bis 9. August 2021 in Tokio geschafft haben, hat vergleichbare Aussichten auf den Sieg oder wenigstens auf eine Medaille? Der Bündner Missionschef Ralph Stöckli hofft auf eine mindestens ebenso reiche Ausbeute wie vor vier Jahren in Rio, also wenigstens sieben Medaillen. Und in welchen Disziplinen? «Mit der Nominierung der Nummer 2 und der Nummer 3 der Weltrangliste der Springreiter (Steve Guerdat und Martin Fuchs) denke ich natürlich an eine Medaille im Reitsport», so Stöckli kürzlich. Zudem setzen wir auf die Radrennfahrer mit Stefan Küng und auch auf die Degenfechter. Bei allen Olympischen Spielen gibt es Stars, die sich hervortun.»

Erinnern wir uns an den jurassischen Springreiter Steve Guerdat, der 2012 in London Olympiasieger im Einzelspringen wurde und diesen Triumph durchaus wiederholen könnte. Über diese kontroversen Spiele, die bei vielen Japanerinnen und Japanern Befürchtungen aufgrund der Gesundheitskrise auslösen, sprach Stöckli unlängst mit der ihm eigenen Zurückhaltung:

Ich denke solidarisch an die Menschen, die leiden. Ob die Durchführung der Spiele angebracht ist oder nicht, kann ich nicht sagen. Den Sportler in mir drängt es jedoch zur Teilnahme. Olympia ist der Traum aller Champions, und ich bin da keine Ausnahme. Wir bereiten uns seit fünf Jahren darauf vor.

Steve Guerdat
Steve Guerdat

Auch die Zürcher Triathletin Nicola Spirig und Olympiasiegerin in London konnte an diesen Erfolg mit Silber in Rio 2016 anknüpfen. Heute zählt die nach wie vor leistungsstarke 39-Jährige, die überdies Mutter von drei Kindern im Alter von 8, 4 und 2 Jahren ist und ein Jurastudium absolviert hat, erneut zum Kreis der Favoritinnen, wie ihr Weltcup-Sieg Ende Mai in Lissabon zeigt. «Körperlich fühle ich mich immer noch fit», erklärte sie vor Kurzem. Ich habe alles dafür getan, dass ich mich in Tokio in Topform präsentieren kann.» Es sind bereits ihre fünften Olympischen Spiele in Folge!


Im Zeitfahren konnte der Berner Radsportler Fabian Cancellara innerhalb von acht Jahren zwei olympische Titel erringen (2008 in Peking und 2016 in Rio). Der 27-jährige Thurgauer Stefan Küng bringt alle Voraussetzungen mit, seine Nachfolge anzutreten. Gerade erst belegte er bei der Tour de France den zweiten Platz im Zeitfahren, nachdem er fast während des gesamten Rennens geführt hatte. Medaillenchancen räumt Delegationsleiter Ralph Stöckli auch dem Schweizer Degenfechter-Team ein. Unter Führung des Routiniers Max Heinzer waren sie 2018 in China Weltmeister geworden. Der Fechtsport hat eine lange Tradition in der Schweiz, doch gelang der Olympiasieg bislang nur Marcel Fischer 2004 in Athen. 


In der Leichtathletik holte Markus Ryffel 1984 in Los Angeles Silber im 5000-Meter-Lauf. Die letzte Schweizer Medaille in dieser besonders attraktiven Olympiasportart liegt schon eine Ewigkeit zurück. Die Sprinterinnen könnten dieser langen Durststrecke in Tokio ein Ende setzen. 2019 wurde die Bernerin Mujinga Kambundji bei den Weltmeisterschaften in Doha Dritte über 200 Meter und war somit die erste Schweizerin, die eine internationale Sprintmedaille gewann. Nach einer langen Verletzungspause stellte sie kürzlich ihre starke Form mit einem dritten Platz beim Meeting in Florenz unter Beweis. In Tokio wird sie auch die 4x100-Meter-Frauenstaffel anführen, die in der Schweiz für Verblüffung sorgte, als sie in Doha den 4. Rang nur knapp hinter den Amerikanerinnen belegte. Inzwischen ist auch die Tessinerin Sprinterin Ajla Del Ponte, frischgebackene Hallen-Europameisterin über 60 Meter, in die Weltspitze vorgedrungen. All das lässt durchaus hoffen! «Wir hätten in Doha fast die Medaille geholt, warum also nicht jetzt bei den Olympischen Spielen?», erklärte Del Ponte unlängst. Auch Staffel-Coach Raphaël Monachon bekennt Farbe. «Diese Medaille haben wir uns ganz fest vorgenommen.»

Mujinga Kambundji
Mujinga Kambundji

 

In der gesamten Geschichte der Spiele ist der Neuenburger Etienne Dagon nach wie vor der einzige Schweizer Schwimmer, der es aufs Siegertreppchen schaffte, indem er 1984 in Los Angeles den dritten Rang über 200 Meter Brust holte. Für den Genfer Schwimmer Jérémy Desplanches, der 2019 in China Vizeweltmeister über 200 Meter Lagen wurde, war eine olympische Medaille schon immer ein Lebenstraum. Bereits in Rio hatte er grosse Ambitionen und liess sich von seinem Scheitern im Halbfinale nicht entmutigen.

Schon als ich aus dem Becken stieg, konnte ich es kaum erwarten, wieder mit dem Training zu beginnen, um vier Jahre später eine neue Chance wahrzunehmen. 

Auf der Suche nach dem Erfolg zog der Genfer nach Nizza, wo die Trainingsbedingungen besser sind. Er schwimmt nicht weniger als vier Stunden pro Tag. 

Missionschef Ralph Stöckli spricht auch von den Stars, die anlässlich der Olympischen Spiele geboren werden. Medaillenchancen in weniger bekannten Sportarten hat die Schweiz insbesondere im BMX mit der Waadtländerin Zoé Claessens, der frisch gekürten Europameisterin, oder im Windsurfen mit Mateo Sanz Lanz, der 2017 am Austragungsort der Olympischen Spiele Vizeweltmeistertitel wurde.

Der Walliser Werner Augsburger ist mit Olympia bestens vertraut, war er doch ab Anfang der 2000er-Jahre dreimal in Folge Delegationsleiter. Er weiss, dass eine gute Gruppendynamik zu Medaillen führen kann. «Die Bronzemedaille von Bruno Kernen im Abfahrtslauf gleich zu Beginn der Olympischen Winterspiele 2006 in Turin wirkte gewissermassen als Befreiungsschlag für den Rest der Mannschaft. Je länger Podiumsplätze ausbleiben, desto mehr wächst der Druck, da die Presse jeden Tag nachhakt: «Wann kommt denn nun endlich die erste Medaille? » Die Medaille, die den Waadtländer Judoka Sergei Aschwanden am meisten geprägt hat, war nicht aus Gold, sondern aus Bronze. Er erkämpfte sie 2008 in Peking und war damit nach zwei vergeblichen Anläufen endlich erfolgreich.

Vier Jahre voller Entbehrungen können bei Olympia innerhalb weniger Sekunden verpuffen.» So erging es ihm nämlich, als er bei den Spielen 2000 und 2004 vorzeitig ausschied, obwohl er zu den Favoriten gehörte. Doch er verfolgte seinen Traum hartnäckig weiter und konnte ihn schliesslich verwirklichen. In weniger bekannten, kaum lukrativen Sportarten bleibt Olympia das höchste Ziel.

Besondere Erinnerungen verbindet Werner Augsburger auch mit der olympischen Eröffnungsfeier in Peking. Fahnenträger für die Schweiz war damals ein gewisser Roger Federer. «Wir mussten ihn behüten, denn die anderen Athletinnen und Athleten wollten sich ständig mit ihm fotografieren lassen. Ich bemerkte, wie viel Sympathie ihm entgegengebracht wird.»

Seit Beginn der modernen Olympischen Sommerspiele hat die Schweiz 192 Medaillen gewonnen, davon 40 goldene. Besonders reichlich war die Ausbeute 1924 in Paris mit 25 Medaillen. Der Schweizer Olympiateilnehmer mit den meisten Titeln ist weiterhin der Zürcher Turner Georges Miez, der bei vier Spielen zwischen 1924 und 1936 acht Medaillen, davon viermal Gold, gewann. Ohnehin ist das Turnen für die Schweiz die erfolgreichste Sportart (49 Medaillen) vor dem Rudern und dem Pferdesport. Einige der Olympiasiegerinnen und -sieger der letzten Jahre haben sich besonders viel Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit verschafft. So unter anderem Marc Rosset im Tennis, der 1992 in Barcelona die einzige Medaille für die Schweiz holte, das Tennis-Duo Federer-Wawrinka, das 2008 in Peking Gold erkämpfte, Steve Guerdat 2012 und natürlich Pascal Richard, der an einem 31. Juli in die Geschichte einging. 

Wer aus dem Schweizer Team wird es ihnen gleichtun?