Jona PGT, Personal Gallery studio in Lugano

«Swiss Tattoo» – Schweizer Qualität hauttief

Die Marke Schweiz ist beliebt. Das Label «Swiss made» wird mit Qualität, Vertrauenswürdigkeit und höchster Präzision assoziiert. Diese Eigenschaften werden auch mit der Schweizer Tattoo-Branche in Verbindung gebracht: Das Land kann sich rühmen, eine Generation von renommierten Tätowiererinnen und Tätowierern hervorgebracht zu haben, die sich durch besonderes Talent auszeichnen.

Zu diesem Schluss kommt der Journalist und Tattoo-Fan Clément Grandjean in seinem Buch «Swiss Tattoo». Er hat achtzehn Monate lang in der Schweizer Tattoo-Szene recherchiert, Fachleute aus der Praxis getroffen und in Archiven geforscht. Entstanden ist ein Werk, das die erstaunliche Vielfalt dieser Branche abbildet und ihre Geschichte nachzeichnet. Interview mit dem Autor dieses ersten Branchenporträts zu einem Zeitpunkt, in dem #swisstattoo (150k) dem Hashtag #swisscheese (170k) auf Instagram den Rang abzulaufen droht. 

David Mottier Tattoo

Weshalb dieses Interesse am Tätowieren – und das in einem kleinen Land wie der Schweiz?

Wie überall in Europa erlebt das Tätowieren in der Schweiz seit einigen Jahren einen Boom. Die Zahl der Tätowiererinnen und Tätowierer im Land wird auf über tausend geschätzt. Dabei sind wir in der Schweiz weit entfernt von einer Tradition, wie sie Japan oder die USA kennen, der Wiege der Flash-Tattos [kleinere Einzelmotive, die aus Vorlagen-Büchern ausgewählt werden]. Trotzdem finden sich einige Schweizerinnen und Schweizer unter den Stars der internationalen Tattoo-Szene: Happypets in Lausanne, Maxime Plescia-Büchi, der Gründer der berühmten Sang Bleu Tattoo-Studios in London, Zürich und Los Angeles, und vor allem Filip Leu, der in Branchenkreisen als bester Tattoo-Artist der Welt gilt und sich auf grosse, japanisch inspirierte Designs spezialisiert hat. Kundschaft aus aller Welt kommt nach Sainte-Croix im Waadtländer Jura, um sich von ihm tätowieren zu lassen! Ich wollte dieses Paradox verstehen, das meiner Meinung nach ganz typisch für die Schweiz ist.  

 

Filip Leu
Filip Leu in seinem Studio «The Leu Family’s Family Iron» in Sainte-Croix 
© Clément Grandjean

 

Sie sind also kreuz und quer durchs Land gereist auf der Suche nach dem typisch schweizerischen Tattoo-Look. Haben Sie ihn gefunden? 

Ja und Nein. Aus stilistischer Sicht haben wir nicht viel erfunden, das kann man gleich vorweg sagen. Was die Motive betrifft, gibt es keine eigentlichen Schweizer Tattoos, ausser zum Beispiel die Fondue-Caquelons von David Mottier, der die nationale Folklore auf humorvolle Weise neu interpretiert. Unser Markenzeichen ist die technische Perfektion, die Beherrschung bestimmter Stile, die berühmte «Schweizer Qualität». Es ist eine Besonderheit unseres Landes, dass wir aus anderen Traditionen schöpfen, uns fremdes Know-how aneignen und dieses perfektionieren. Genau das hat die Pioniergeneration in den 1970er-Jahren getan, insbesondere Filips Vater, Felix Leu. Mit seiner damals einzigartigen Weltoffenheit hat er Lausanne zum Hotspot der einheimischen und später der internationalen Tattoo-Szene gemacht.

 

David Mottier
David Mottier in seinem Studio «The Rainbow Tattoo» in Riaz 
© Clément Grandjean

 

Können Sie uns etwas mehr über die Familie Leu und ihre Pionierrolle erzählen? 

Felix und Loretta Leu waren damals Teil der zeitgenössischen Kunstszene. Sie reisten viel und arbeiteten für Jean Tinguely (Felix’ Schwiegervater) und Niki de Saint Phalle. Felix kam eher durch Zufall zum Tätowieren, aber dank seinem künstlerischen Ansatz und seinem Geschäftssinn erlangte das Familienunternehmen bald einen weltweiten Ruf, zunächst basierend in Goa, dann in Lausanne. Sie gehörten zu den ersten, die Handschuhe anzogen, Nadeln desinfizierten, ethische Normen befolgten... Damit haben sie die internationale Szene massgeblich beeinflusst.

In der Schweiz hat die Familie Leu eine ganze Generation von Talenten ausgebildet. Der Export dieses Know-hows florierte, weil man hier die Möglichkeit hatte, sich in den Studios der Stars und an internationalen Kongressen weiterzubilden. Aufgrund dieser Vergangenheit und des hohen Lebensstandards zieht die Schweiz auch heute noch viele Tätowiererinnen und Tätowierer an.

 

Leu Tattoo Studio
Felix und Loretta Leu liessen sich in den 1970er-Jahren auf dem Weg von London nach Goa ihre ersten Tattoos stechen 
© Clément Grandjean

 

In der Schweiz gibt es mehr als tausend Tattoo-Shops. Sie stellen in Ihrem Buch «Swiss Tattoo» 32 ganz unterschiedliche Tätowiererinnen und Tätowierer vor. Wie kam es zu dieser gezwungenermassen willkürlichen Auswahl? 

Die Auswahl ist natürlich subjektiv und diskutierbar, aber sie ist insofern repräsentativ für die Realität der heutigen Schweizer Tattoo-Szene, als sie die vorhandene Vielfalt an Stilen, Generationen und Regionen abbildet. Es hat auch ein paar persönliche Favoriten darunter. Die Tattoo-Szene ist eine Szene, die nicht im Rampenlicht steht. Deshalb fällt es schwer, sich ein umfassendes Bild von ihr zu machen. Ich glaube, diese Auswahl zeigt die verschiedenen Traditionen und Strömungen. Allen gemeinsam ist das einzigartige Know-how. 

 

Wer sind die Protagonisten der heutigen Schweizer Tattoo-Szene? 

Es gibt eine junge Generation von Tätowiererinnen und Tätowierern, die oft aus Kunstschulen hervorgegangen sind – man könnte von einer eigentlichen ECAL-Generation sprechen (nach der Ecole cantonale d’art de Lausanne). Die meisten neuen Tattoo-Artists kommen aus dem Grafikdesign. Sie nutzen die Mittel der Schweizer Typografie und Grafik, um das Tattoo-Handwerk technisch weiter zu perfektionieren. Ein Beispiel dafür sind die Ink Traps – kleine grafische Details, mit denen die Verteilung der Tinte auf dem Papier kontrolliert werden kann. Ihre Arbeit machen sie nicht mehr über die Fachpresse, sondern via Instagram bekannt. Dort spielt sich heute alles ab. 

 

David Mottier Tattoo
Design von David Mottier 
© Clément Grandjean

 

Wie reagiert die Branche auf diese Entwicklungen? 

Instagram ist für einige die einzige Möglichkeit, mit der Kundschaft zu kommunizieren. Das ist manchmal problematisch, weil der Algorithmus unberechenbar ist. Tätowiererinnen und Tätowierer müssen sich heute selber vermarkten und sind entsprechend auf Bildbearbeitung, Likes und ihr Kommunikationstalent angewiesen. Das hat einige von ihnen zu Stars gemacht und ihnen mehr Freiheit verschafft, so dass sie sich heute erlauben können, nur das zu machen, was ihnen gefällt. 

 

Heisst das, dass Infinity-Symbole am Handgelenk, Schriftzüge und all das vorbei sind? 

Keineswegs. Das Tätowieren auf Wunsch des Kunden ist immer noch sehr wichtig und soll nicht schlechtgeredet werden. Viele renommierte Studios machen das immer noch, und ich finde es im Hinblick auf eine echte Demokratisierung des Tätowierens wichtig, dass es möglich bleibt. Tätowieren ist in erster Linie ein Handwerk und kundenorientiert, obwohl es auch eine eigenständige Kunst ist. Das Design ist im Grunde zweitrangig. Ob es sich nun um ein ganzes Backpiece von Filip Leu oder ein Infinity-Symbol handelt: Ich glaube, dass man die Konfrontation mit dem Körper und dem Schmerz als Kundin oder Kunde genau gleich erlebt. 

 

Leu Tattoo Studio
Filip Leu und Sailor Bit bei der vierhändigen Arbeit an einem Backpiece – einer Tätowierung, die den gesamten Rücken bedeckt – im Studio «The Leu Family’s Family Iron» in Sainte-Croix
© Clément Grandjean

 

Dieser Moment, in dem man sich auf die eigene Atmung konzentriert und mit dem eigenen Schmerz beschäftigt, hat etwas Kathartisches und Rituelles. 

Clément Grandjean

 

Wie lässt sich diese Faszination für Tattoos erklären, die in der Schweiz und vielen anderen Ländern einen neuen Höhepunkt erreicht hat? 

Die Pioniergeneration kämpfte darum, einer kulturellen Praxis wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, die in Europa unter einem schlechten Ruf litt, da sie in der jüngeren Geschichte mit Randgruppen in Verbindung gebracht wurde. Mit Erfolg. Heute sehen wir meines Erachtens, dass das Tätowieren in dieser hektischen Welt einem universellen Bedürfnis entspricht. Dieser Moment, in dem man sich auf die eigene Atmung konzentriert und mit dem eigenen Schmerz beschäftigt, hat etwas Kathartisches und Rituelles. 

 

Was sagen Sie den Menschen, die das für eine vorübergehende Modeerscheinung halten? 

Tattoos faszinieren seit jeher. Die Kulturgeschichte der Tattoos geht bis in die Urzeit der Menschheit zurück. Schon Ötzi, der über 5000 Jahre vor Christus in den österreichisch-italienischen Alpen ganz in unserer Nähe lebte, war tätowiert. Ich habe im Anatomischen Museum in Basel tätowierte Hautproben aus dem späten 19. Jahrhundert gefunden, die deutlich zeigen, dass sich die Menschen lange vor Instagram Melkerszenen und Schweizer Wappen tätowieren liessen. Wer weiss, was die Geschichte des Tätowierens in der Schweiz noch für Überraschungen bereithält! 

Tätowierungen waren lange ein Tabu-Thema. Das stand einer offenen und sachlichen Diskussion über ihre Bedeutung in unserer Gesellschaft und darüber, was sie über die Entwicklung unseres Verhältnisses zum Körper aussagen, im Wege. Die Schweiz ist da keine Ausnahme, aber das ändert aich nun allmählich.

 

Old tattoo ca. 1900
Anonyme Tätowierung (ca. 1900), Anatomisches Museum Basel

 

Von der Jungsteinzeit über die Basler Rheinschiffer nach Sainte-Croix: Die Geschichte des Tätowierens in der Schweiz   

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kehrte der britische Seefahrer und Entdecker James Cook aus Neukaledonien in die Heimat zurück. Er brachte aus der Südsee einen Polynesier mit, der sichtbar tätowiert war. So kamen Tattoos der Überlieferung nach um das Jahr 1770 nach Europa. Bei den Seeleuten auf dem ganzen Kontinent kam das Tätowieren rasch in Mode. Sie machten sich diese als sehr exotisch geltende Körperkunst zu eigen und ergänzten sie mit Motiven aus ihrer eigenen Lebenswelt, wie Anker, Segelschiffe, Meerjungfrauen oder Kompasse.

Mit den Rheinschiffern kam der Trend schliesslich via Basel auch in der Schweiz an, wie der Journalist Clément Grandjean in «Swiss Tattoo» (2022, Helvetiq), dem ersten Buch, das dem Tätowieren in der Schweiz gewidmet ist, ausführt.  

 

Seit Urzeiten verbreitet 

Weniger bekannt ist, dass sich Menschen seit Urzeiten mit Hautbildern schmücken, nicht nur in Polynesien, sondern auch in der westlichen Welt. Genauer gesagt mindestens seit dem Ende der Jungsteinzeit, wie man seit dem Fund von Ötzi im Grenzgebiet zwischen Österreich und Südtirol weiss. Der Mann aus dem Eis – seine Mumie wurde über Jahrtausende auf natürliche Weise im Gletscher konserviert – ist der älteste tätowierte Mensch, der je entdeckt wurde. 

Sein Körper weist 61 eintätowierte Strichmuster auf. Da sich die Zeichnungen exakt an der Hauptakupunkturlinie befinden, geht man davon aus, dass sie seine arthritisbedingten Schmerzen lindern sollten. Sie wurden wahrscheinlich Punkt für Punkt mit einer Knochennadel und aus Russ gewonnenem Pigment eingefärbt.

Die gekrönten Häupter Englands und mehrerer nordischer Länder stellten gerne japanische Drachen oder nautische Symbole zur Schau.

Clément Grandjean

Kelten, Griechen, Römer – alle westlichen Gesellschaften kannten Tätowierungen schon lange vor der Neuzeit, doch mit dem Aufkommen des Christentums wurde diese Art des Körperschmucks mit Heidentum assoziiert, war verpönt und geriet vielerorts in Vergessenheit. Obwohl Untersuchungen belegen, dass das Tätowieren in bestimmten Kreisen im Versteckten weiter praktiziert wurde, rückten Tattoos erst mit der Rückkehr des Briten James Cook nach Europa wieder in den Fokus der Gesellschaft. Ausgehend von den Häfen fanden sie im 18. Jahrhundert in allen sozialen Randgruppen Verbreitung.

 

Old tattoo machine
Eine der ersten Tätowiermaschinen, präsentiert von Dave Holm. Er ist selbst Tätowierer und plant die Eröffnung des ersten Schweizer Tattoo-Museums in Basel 
© Clément Grandjean

 

Knastbrüder, Soldaten und «Freaks» 

Tätowierungen waren sehr beliebt bei den Soldaten der napoleonischen Armee (von denen einige Kontingente aus der Schweiz stammten), bei Strafgefangenen und bei einer ganzen Reihe von Menschen, die auf den berühmten Freakshows des viktorianischen Zeitalters gezeigt wurden. Die Geschichte des Tätowierens in der Schweiz ist in diesem Zusammenhang zu sehen. «Auf Schlachtfeldern oder Meeren: die Schweizer waren überall – verschwiegene Söldner und gewiefte Händler. Man kann sich vorstellen, dass viele Schweizer Tätowierungen gesehen haben oder sogar mit nach Hause brachten, obwohl die Praxis wahrscheinlich äusserst marginal blieb», erklärt Clément Grandjean. 

Seinem Buch ist zu entnehmen, dass die ersten Forschungen, die sich mit den verschiedenen Typologien von Tätowierten befassten, von Medizinanthropologen und Kriminologen in Irrenanstalten, Gefängnissen und Kasernen durchgeführt wurden, was den schlechten Ruf von Tattoos weiter zementierte. Dabei war das Tätowieren damals bereits in allen sozialen Schichten verbreitet. Der Journalist berichtet, dass «die gekrönten Häupter Englands und mehrerer nordischer Länder gerne japanische Drachen oder nautische Symbole zur Schau stellten.» 

 

Erfindung der ersten Maschine 

Allerdings dauerte es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, bis der Amerikaner Samuel O’Reilly die erste elektrische Tätowiermaschine erfand, eine Tattoo-Gun, wie sie heute noch in ähnlicher Form verwendet wird. Damit entwickelte sich das Tätowieren zu einem eigentlichen Beruf. Es ist der Beginn der Tattoostudios und der berühmten Flash Sheets, die zunächst der Tradition der Seeleute treu blieben, dann aber immer persönlicher wurden, je nach Stil der Tätowiererin bzw. des Tätowierers. 

 

Tattooing machine patent
Plan der Tätowiermaschine von Samuel O’Reilly

 

Auch in der Schweiz wurde um 1900 tätowiert, aber es gibt nur wenige aussagekräftige Belege dafür, abgesehen von den Hautstücken, die im Anatomischen Museum Basel aufbewahrt werden und die der Autor von Swiss Tattoo aufgespürt hat. Die Designs zeigen rein schweizerische Motive – Baslerstab, Melkszene, die allegorische Figur Helvetia und so weiter. Es ist jedoch nicht bekannt, wer die tätowierten Personen waren und von wem die Tattoos stammen. 

 

Dischy, der Pionier

Die Geschichte der Tätowierkunst in der Schweiz begann erst so richtig in den 1950er-Jahren mit Dischy, der das allererste Schweizer Tattoo-Studio eröffnete und nach wie vor in Rheineck (SG) als Tätowierer arbeitet! Die Entwicklung des Schweizer Know-hows im Tätowieren, das sich durch technische und ästhetische Meisterschaft und durch die Beachtung ethischer Normen auszeichnet, ist der Saga der Familie Leu und insbesondere Filip, dem Sohn, zu verdanken. Er gilt in der Branche als der beste Tätowierer der Welt, sagt Clément Grandjean, und er arbeitet in Sainte-Croix. 

 

Dischy
Tattoo-Pionier Dischy arbeitet weiterhin in seinem Studio in Rheineck
© Clément Grandjean

 

Porträt: «Caquelon, Matterhorn, Enzian, Heissluftballon und Schweizer Taschenmesser: klassische Schweizer Insignien, vereint in diesem Design von David Mottier vom Studio «Rainbow Tattoo» in Riaz. © Clément Grandjean 

 

Dieser Artikel von Pauline Cancela erschien ursprünglich im September 2022 in der Westschweizer Zeitung «Le Temps».