© SWPIX

Schweizer Talentschmiede für junge Radsporthoffnungen aus aller Welt

Er schaffte die Sensation: Biniam Girmay hat vor Kurzem als erster afrikanischer Radsportler ein WorldTour-Rennen gewonnen. Als Nachwuchsathlet hatte er einst mehrere Monate im «World Cycling Centre» des Weltradsportverbands (Union Cycliste Internationale, UCI) in Aigle im Kanton Waadt verbracht, wo Talente aus aller Welt auf die Herausforderungen des Profi-Radsports vorbereitet werden. Er avancierte damit zum Botschafter der über 1500 Talente aus Entwicklungsländern, die in den vergangenen 15 Jahren sogenannte «High Level Courses» in Aigle durchlaufen haben.

Ende März ging der Eritreer Biniam Girmay mit 22 Jahren in die Geschichte des Radsports ein. Mit seinem Sieg beim Klassiker Gent-Wevelgem ist der Mann aus einem der ärmsten Länder der Welt der erste afrikanische Fahrer, der eines der wichtigsten internationalen Radsportrennen gewann. «Das ist fantastisch, das ist unglaublich, nie und nimmer hätte ich damit gerechnet, zu gewinnen», kommentierte Girmay seinen Sieg.

© SWPIX

In Aigle, dem Weltzentrum des Radsports, freute sich ein Mann besonders über diesen Exploit: Jean-Jacques Henry. Er ist seit zehn Jahren verantwortlich für das Entwicklungsprogramm des Weltverbandes, der die Aufgabe hat, den Radsport in allen seinen Formen auf der ganzen Welt zu fördern. Der afrikanische Juniorenmeister Biniam Girmay hielt sich 2018 und 2019 zweimal während drei bis vier Monaten in Aigle auf. Jean-Jacques Henry betreute ihn damals als Coach.

© 53x11.studio
© 53x11.studio

 

Der Bretone, der in den 1990er-Jahren selber Radprofi war, findet nur lobende Worte für den jungen Champion: «Biniam ist intelligent, sehr aufmerksam und versteht schnell, was man ihm sagt. Es war einfach, ihn zu fördern. Er hatte lange Zeit eine Abneigung gegen Kopfsteinpflaster, bei Gent-Wevelgem ist er aber sehr gut damit klargekommen. Mit seinen 1,80 m und 66 kg verfügt er über ein gutes Leistungsgewicht. Er ist ein Sprinter, der gut klettern kann. Er ist nicht für die grossen Pässe geschaffen, aber durchaus in der Lage, Anstiege von drei oder vier Kilometern Länge effizient zu überwinden. Ich denke, die Zeit in Aigle hat ihn weitergebracht.» 

Nach Ansicht des Trainers hat der junge Eritreer eine grosse Zukunft vor sich.

Es hat nicht lange gedauert, bis er sein Potenzial unter Beweis gestellt hat. Er hat gezeigt, dass er ein grosses Rennen gewinnen kann. Damit hat sich sein Status verändert: Er ist nun ein «beschützter» Fahrer, ein Leader. Was er einmal erreicht hat, kann er wiederholen. Vor allem, weil er erst 22 Jahre alt ist. Andere schaffen den Duchbruch erst mit 30. Ich kann mir gut vorstellen, dass Biniam auch bei anderen Ardennenklassikern wie dem Amstel Gold Race oder der Flèche Wallonne glänzt. Wer weiss, wo seine Grenzen liegen.

© SWPIX
© SWPIX 

 

Dass ein Eritreer als erster Afrikaner ein so prestigeträchtiges Rennen gewinnt, überrascht den französischen Experten nicht. «Eritrea hat als ehemalige italienische Kolonie eine grosse Leidenschaft für den Radsport, wie Kenia oder Äthiopien für die Leichtathletik. Ein anderer Eritreer, Daniel Teklehaimanot, trug 2015 als erster Afrikaner das Bergtrikot bei der Tour de France.

In den 15 Jahren, in denen das Nachwuchsprogramm des Weltradsportverbands existiert, haben rund 1500 junge Talente im Alter von 17 bis 24 Jahren aus Afrika, Asien und Lateinamerika daran teilgenommen, betreut von qualifizierten Trainerinnen und Trainern. «Vor acht Jahren feierten wir unsere 1000. Trainee, eine Ruanderin namens Jeanne d’Arc», lächelt Jean-Jacques Henry. Vor Girmay Biniam hatten bereits einige Talente, die durch Aigle gegangen waren, auf höchstem Niveau brilliert, darunter die Venezolanerin Stefany Hernandez, die 2015 BMX-Weltmeisterin wurde, oder Nicolas Paul aus Trinidad und Tobago, der kürzlich bei den Olympischen Spielen in Tokio den sechsten Platz im Sprintwettbewerb belegte und weiterhin regelmässig auf der Waadtländer Bahn seine Form pflegt. In diesem Frühjahr bereitete sich ein Team aus Thailand in einem Trainingslager für die Olympischen Spiele in Paris 2024 vor.

Im Weltradsportzentrum, das seinem Namen so viel Ehre macht, herrscht ein babylonisches Sprachengewirr, so viele Nationen sind hier vertreten. Jean-Jacques Henry ist von seiner Arbeit begeistert. «Diese Jugendlichen teilen viel Wissen untereinander. Je nach ihren Eigenheiten, ihrer Kultur und ihrer Religion geht man unterschiedlich mit ihnen um. Sie haben oft nicht denselben Lebensstil wie wir. Man muss ein Gefühl für sie entwickeln, Schritt für Schritt vorgehen, geduldig sein und ihnen gleichzeitig vermitteln, wie hoch die Anforderungen sind. Denn wer hier ist, will es schaffen.»

Um ein Radsportchampion zu werden, reicht es nicht aus, ein grosses Potenzial zu haben und in die Pedale zu treten. «Bei diesen Jugendlichen gibt es eine Vielzahl von Details, die es zu korrigieren gilt. Sie müssen lernen, sich besser zu ernähren und sich besser zu erholen. Der Radsport ist ein sehr taktischer und technischer Sport. Ein guter Fahrer muss in der Lage sein, ein Rennen zu lesen und Situationen zu analysieren. Wer mit diesen Faktoren nicht umgehen kann, wird es nicht schaffen, selbst wenn er sehr stark ist.»

© 53x11.studio
© 53x11.studio

 

Nur die besten jungen Talente aus aller Welt erhalten eine Einladung an das Weltradsportzentrum. Sie werden mit Hilfe eines sehr raffinierten Systems aufgespürt. «Wir haben Niederlassungen auf allen Kontinenten» fährt Jean-Jacques Henry fort. «Für Afrika zum Beispiel in Pearl in Südafrika. Die Jugendlichen werden dort auf Hometrainern getestet, die uns die notwendigen Daten liefern.» 

© 53x11.studio
© 53x11.studio

 

In Aigle werden ihre Kosten vollständig übernommen, finanziert durch die nationalen Verbände und den Olympischen Solidaritätsfonds. Sie wohnen in einem Wohnheim im Stadtzentrum von Aigle und erhalten leihweise ein Rennrad. «Dank unseren Beziehungen können sie an hochklassigen Rennen im internationalen Rennkalender teilnehmen. In Europa gibt es über 100 davon, in Afrika dagegen nur knapp ein Dutzend. Zudem ist das Reisen auf diesem Kontinent viel komplizierter: Die jungen Athleten müssen manchmal mehr als 3000 Kilometer zurücklegen, um an einem Rennen teilzunehmen.» Die UCI fördert den Radsport auch direkt vor Ort, indem sie Profi-Rennräder entsendet. Am Tag unseres Besuchs warten einige Velos, gut verpackt, auf den Versand nach Benin und Sri Lanka. «In diesen Ländern liegen die Durchschnittslöhne selten über 200 Franken pro Monat, während ein Wettkampfrad zwischen 3000 und 10’000 Franken kostet.»

Die UCI ist auf allen Ebenen aktiv. Im Dezember 2021 traf ein Dutzend junger afghanischer Radsportlerinnen nach einer abenteuerlichen Evakuierungsaktion, die gemeinsam vom Präsidenten der UCI, David Lappartient, und dem für Sport zuständigen Waadtländer Staatsrat, Philippe Leuba, organisiert worden war, in Aigle ein. Sie waren in ihrer Heimat einem erheblichen Risiko ausgesetzt, nachdem die Taliban die Ausübung des Radsports nach ihrer Rückkehr an die Macht verboten hatten.

2025 findet in Ruandas Hauptstadt Kigali die Strassenrad-WM und damit das grösste Rennen der UCI erstmals in Afrika statt. «Bei den Profis sehe ich kaum einen anderen als Biniam Girmay, der für Afrika eine Medaille holen könnte. Aber wir sind dabei, vor Ort 13- bis 14-jährige Jungen und Mädchen aufzuspüren, um sie zu coachen, damit sie eine Chance haben, in drei Jahren bei den Junioren zu glänzen», erklärt Jean-Jacques Henry.