Cabaret Voltaire in Zürich

Emmy Ball-Hennings oder Dadaistin der ersten Stunde

Auf den Kabarettbühnen betörte sie als Tänzerin und Sängerin und gab der Kunstszene entscheidende Impulse. Doch abseits der Theaterwelt fristete die deutsche Künstlerin Emmy Hennings mit ihrem Gefährten und späteren Ehemann Hugo Ball ein Emigrantendasein in bitterster Armut. Im Februar 1916 eröffneten die beiden das Cabaret Voltaire im Zürcher Niederdorf – DADA war da!

Emmy Ball-Hennings (1885-1948), diese fragile Künstlerin, wickelte die Männer reihenweise um den Finger: Der Dichter Erich Mühsam nannte sie ein «erotisches Genie», für Hermann Hesse war sie «ein Märchenvogel und ein kleiner Engel», ihr Lebensgefährte Hugo Ball fragte bewundernd: «Ob Du beim Singen um Deine Wirkung weißt?» Dass sie solchen Zauber ausstrahlte, ist erstaunlich. Denn ihr Leben war geprägt von grosser materieller und psychischer Not, von ständigen Ortswechseln, Drogen, Prostitution, Krankheit und Gefängnis. Zeitlebens war sie eine Versehrte – doch ihre Wortkunst und ihre Bühnenpräsenz überstrahlten das Elend.

Emmy Ball-Hennings

Nullpunkt Zürich

1915 emigrierte Emmy mit Hugo Ball (1886-1927) aus Berlin in die Schweiz; wenig später folgte auch Emmys damals zehnjährige Tochter Annemarie.  Kriegsgegner aus verschiedenen Staaten sammelten sich in der neutralen Schweiz. Während sich Europa rundum zerfleischte, musste ihnen die Ankunft im friedlichen Zürich wie ein Traum erschienen sein. Ihre Lage aber war prekär. Sie waren buchstäblich «ganz unten», verkauften ihre letzte Habe, suchten verzweifelt nach Arbeit und schrieben Bettelbriefe, aus denen Scham und Hoffnungslosigkeit spricht.  Zur Situation bei der Ankunft notierte Emmy:  

Die Stadt war damals das Internationalste, was man sich denken konnte. Am Quai hörte man in allen Zungen sprechen. [...] Nicht frei von Neid sahen wir zu, wie die Möwen und Schwäne gefüttert wurden. Wovon wir uns selbst nährten, scheue ich mich zu sagen.

Ideenvulkan: Cabaret Voltaire

Trotz erbärmlichster Lebensbedingungen entwickelten die beiden eine ungeheure kreative Energie. Hugo Ball eröffnete am 5. Februar 1916 das Cabaret Voltaire – eine offene, anarchische Bühne «für die junge Künstlerschaft Zürichs». Schon am ersten Abend war der Saal brechend voll und auf der Kabarettbühne versammelte sich eine Gruppe von Paradiesvögeln: Maler, Dichter, Varieté-Künstler, unter ihnen Tristan Tzara und Marcel Janco. Geboten wurden Simultanpoesie, Lautgedichte, Trommelwirbel, bizarre Kostüme, Verrücktheiten ohne Ende. Die unscheinbare Spiegelgasse 1 im Zürcher Niederdorf wurde zur Geburtsstätte von DADA.

Hugo Ball
Hugo Ball © Schweizerisches Literaturatchiv (SLA), Bern

Erfolgreicher Schweizer Exportartikel

DADA lässt sich kaum definieren oder erklären. Sicher ist: DADA war gegen den Krieg und gegen überkommene Ordnungen aller Art, auch in der Kunst. DADA war für Experimente und für die befreiende Kraft von Unsinn/Nonsens. Auf der Bühne explodierte die Grammatik, Sätze lösten sich auf; ein Spiel mit Klängen, Rhythmen und Farben nahm seinen Lauf und schuf Raum für noch nie Gesehenes und Gehörtes. Aber DADA Zürich war nur der Anfang. Tristan Tzara trug die Ideen nach Paris, Richard Huelsenbeck nach Berlin: DADA ist also auch einer der erfolgreichsten Schweizer Exportartikel aller Zeiten. Als Urbewegung der Avantgarde elektrisierte und inspirierte DADA später Kunstrichtungen wie Surrealismus, Pop Art und Punk.

Emmy als DADA-Star

Zum Cabaret Voltaire stiessen später auch Max Oppenheimer, Hans Arp, Sophie Taeuber und zahlreiche andere Künstler und Künstlerinnen. Die «Seele des Cabarets» aber war Emmy – die einzige Frau unter den Gründungsmitgliedern. Murrte das Publikum, war sie es, die es mit Chansons wieder in Stimmung versetzte. «Ihre Couplets retteten uns vor dem Hungertode», gab Richard Huelsenbeck unumwunden zu. Dass sie gezeichnet war von den Entbehrungen des Tingeltangel-Lebens, dass das Morphium ihre Gesichtszüge zerstört hatte, war nicht zu übersehen. Und dennoch zog sie alle in ihren Bann.

 Bescheidenes Glück im Tessin

Nacht für Nacht standen Emmy und Hugo auf der Bühne. Nach vier Monaten waren sie vollkommen ausgelaugt, der Schaffensrausch war vorbei. Das Paar zog sich ins Tessin zurück, um dort, in aller Abgeschiedenheit, schreiben zu können. Emmy verfasste mehrere Bücher, die ihren Ruhm als Literatin begründeten. Die beiden ersten, Gefängnis (1919) und Das Brandmal (1920), basieren auf ihren eigenen schmerzlichen Erfahrungen als Gefängnisinsassin und Prostituierte.

1920 heirateten sie. Ein paar kurze, glückliche Jahre im Süden waren es, ehe der erst einundvierzigjährige Ball an Magenkrebs starb.

Emmy überlebte ihn um mehr als zwanzig Jahre – an ihrer wirtschaftlichen Situation änderte sich aber nichts Grundlegendes mehr, noch zuletzt arbeitete sie als Wäscherin, Fabrikarbeiterin oder musste ihre Zimmer untervermieten. Das gemeinsame Grab des exzentrischen Liebespaares ist in Gentilino am Luganersee zu finden.

Emmy und Hugo, 1921 in Agnuzzo, Tessin
Hugo und Emmy in ihrem Garten im Tessiner Dörfchen Agnuzzo
© Schweizerisches Literaturarchiv (SLA), Bern

DADA forever

DADA erwies sich noch Jahrzehnte später als Inspiration. Die Studentenbewegung von 1968 bezog sich ebenso auf die Bewegung wie die «Zürcher Unruhen» der 1980er Jahre. Das Zürcher Kunsthaus beherbergt die weltweit grösste DADA-Sammlung. Das Cabaret Voltaire ist 2004 wieder eröffnet worden. Und im Jubiläumsjahr 2016 überboten sich Radio, Fernsehen und Veranstalter gegenseitig mit DADA-Hommagen.

Emmys und Hugos künstlerisches Erbe lebt also weiter – gerade auch in Zürich, diesem dadaistischen Urgrund.