Sebastian, Gert-Jan, Grégoire und David

Verbindung zwischen Gehirn und Beinen dank Neurotechnologie wiederhergestellt

Schweizer Forschende geben Querschnittsgelähmten wieder Hoffnung: Ihre Forschungsarbeiten haben zu revolutionären Lösungen geführt, die es Menschen mit Rückenmarksverletzungen ermöglichen, wieder allein zu gehen. Zwei Schweizer Forschende haben mit Hilfe der Neurotechnologie erstmals die Verbindung zwischen Gehirn und Beinen wiederhergestellt.

Revolutionärer Durchbruch

Eine neue Studie mit dem Titel STIMO (Stimulation Movement Overground) lässt drei querschnittgelähmte Patienten mit Hilfsmitteln wie Krücken oder Rollator wieder alleine gehen. Ein Schweizer Wissenschaftler-Team um Grégoire Courtine von der ETH Lausanne (EPFL) und Jocelyne Bloch vom Unispital Lausanne (CHUV) hat Forschungsarbeiten durchgeführt, die es Rückenmarksverletzten ermöglichen, dank einem Implantat die Kontrolle über ihre Beinmuskulatur zurückzuerlangen – eine Weltpremiere in der Geschichte der Wissenschaft. 
 

 

Grégoire Courtine und Jocelyne Bloch mit einem Kollegen und Patienten

«Wir haben diese Technologie zunächst an Versuchstieren getestet, um herauszufinden, in welchen Bereichen wir ansetzen müssen und wie diese mit elektrischer Stimulation zu erreichen sind», erklärt der Neurowissenschaftler Grégoire Courtine. «Nach über zehnjähriger Forschung können wir heute genau nachvollziehen, wie das Gehirn das Rückenmark aktiviert. Wir haben zum ersten Mal gezeigt, dass eine verletzungsbedingt gelähmte Ratte eine willentliche Kontrolle über ihre gelähmten Gliedmassen wiedererlangen kann. Dann haben wir das Experiment an einem Primaten wiederholt. Das ist revolutionär, weil es noch nie zuvor nachgewiesen wurde. Es ist wirklich die Kraft des Willens, wieder gehen zu können, die das Gehirn dazu bringt, Verbindungskanäle zum geschädigten Lendenwirbelbereich aufzubauen.» Dank dieser ermutigenden Ergebnisse bei Tieren erhielt das Forscherteam grünes Licht, um eine klinische Studie an querschnittgelähmten Personen durchzuführen. 

David ré-apprend à marcher
David lernt wieder zu gehen © Jean-Baptiste Mignardot

Verbindungen wiederherstellen

Das Verfahren zur Wiederherstellung der Verbindungen zwischen Gehirn und Beinen erfordert einen operativen Eingriff. Über der Rückenmarksverletzung wird eine Reihe von Elektroden implantiert. «Besonders wichtig ist für uns, dass die letzten sechs Zentimeter des Rückenmarks unversehrt sind, denn von dort aus sollen die Beine aktiviert werden und dort pflanzen wir die Elektroden ein», ergänzt die Neurochirurgin Jocelyne Bloch, die die Patienten operiert hat. «Eine Behandlung ist jedoch nur möglich, wenn das neuromuskuläre System des Patienten nicht verkümmert ist», präzisiert Grégoire Courtine. Die im Lendenwirbelbereich eingepflanzten Elektroden senden elektrische Reize, welche die Wiederherstellung der Verbindung zum Gehirn ermöglichen. Das Experiment ist ein Erfolg. Ende Oktober nahm ein sechster Patient, der nach einem ähnlichen Unfall, wie ihn die anderen erlitten hatten, querschnittgelähmt war, an der klinischen Studie teil. 

David M.
David kann wieder frei stehen. ©EPFL Jamanii Caillet

Vielversprechende Ergebnisse

Die Reha-Methode wird sechs Monate lang getestet. Während der ersten Trainingseinheiten trägt der Patient ein Gurtzeug, das sein Körpergewicht mitträgt. Ausserdem bleiben zwei Personen aus dem wissenschaftlichen Team an seiner Seite. In dem Masse, in dem eine Person Fortschritte macht, gewinnt sie an Selbständigkeit. Die Therapie bedeutet psychisch und physisch hartes Training für die Patienten, aber dieses zahlt sich aus. Die drei ersten Patienten können heute mit Hilfsmitteln wie Krücken oder Rollator wieder alleine gehen. «Im Laufe der Zeit habe ich die Kontrolle über meine Beine wiedergewonnen. Ich konnte meinen Fuss absetzen, wo ich wollte, meine Beine bewegen und mit weniger Körperunterstützung auskommen, also meine Beine allmählich wieder mehr belasten», freut sich Sébastien Tobler, einer der Teilnehmer an der klinischen Studie. «Ziel des Projekts ist es letztlich, dass die Kommunikation zwischen Gehirn und Rückenmark vom Körper des Patienten gespeichert wird und ohne elektrische Stimulation wieder auf natürliche Weise stattfindet. Das heisst, dass der Patient unabhängig vom Implantat in seinem Körper gehen kann.» Grégoire Courtine und Jocelyne Bloch erhoffen sich auch, dass das von ihnen getestete Verfahren eines Tages als Therapie anerkannt wird. 

Sebastian
Sebastian fährt das Handdreirad, welches er eigens entwickelt und gebaut hat. © Jean-Baptiste Mignardot