CERN

Den Rätseln des Universums auf der Spur: das CERN

Die Physikerinnen und Physiker der Europäischen Organisation für Kernforschung in Genf erforschen die Grundbausteine der Materie. Dritter Teil unserer Serie zu Schweizer Universitäten und Forschungsinstituten.

Dass Sie diesen Artikel lesen und gleichzeitig Ihre Facebook-Nachrichten abrufen können, verdanken Sie unter anderem der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN). 1989 erfand der britische CERN-Physiker Tim Berners-Lee das World Wide Web, zu dessen Applikationen das Internet gehört. Ziel war es ursprünglich, den Informationsaustausch zwischen den Forscherinnen und Forschern zu erleichtern, die am zentralen Auftrag dieses namhaften Labors für Grundlagenphysik beteiligt sind: der Entschlüsselung der Gesetze des Universums.

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Der früher am CERN tätige britische Physiker Tim Berners-Lee erfand 1989 das World Wide Web © CERN

 

 

Der Tunnel des Large Hadron Collider (LHC)

Das CERN liegt in Meyrin bei Genf an der schweizerisch-französischen Grenze. Es beschäftigt fast 3200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und zählt 21 Mitgliedstaaten. Mit Ausnahme Israels sind es alles europäische Länder. Die Aktivitäten des CERN machen jedoch nicht an den Grenzen des alten Kontinents halt. Insgesamt sind rund 12’000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der Forschung des CERN beteiligt. Sie vertreten 600 Institute und Universitäten, 70 Länder und 120 Nationalitäten. Das ist die Hälfte der Teilchenphysiker der Welt!

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Der «Globe of Science and Innovation» ist das architektonische Wahrzeichen des CERN im schweizerischen Meyrin © CERN

Der Standort wurde vor allem wegen der Neutralität der Schweiz gewählt, die Schutz vor der Zweckentfremdung von Forschungsgeldern zu militärischen Zwecken bietet. Zur Zeit der Gründung der Organisation 1954 hatte gerade der Kalte Krieg begonnen. Die Schweiz hat aber auch andere Vorteile: die zentrale Lage in Europa, eine langjährige Tradition als Gaststaat internationaler Organisationen und ein stabiles Umfeld, eine unabdingbare Voraussetzung für langfristig angelegte Experimente und den Aufbau einer nachhaltigen Infrastruktur.

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Erster Spatenstich für das CERN in Meyrin bei Genf, 1954 © CERN

Die Ergründung der Naturgesetze ist nämlich eine langwierige Angelegenheit. «Wir wollen herausfinden, woraus Materie besteht. Das heisst, wir wollen die Grundbausteine (oder Elementarteilchen, Anm. d. Red.) identifizieren, aus denen sich die Materie zusammensetzt, und ihre Wechselwirkungen erforschen», erklärt der 68-jährige Peter Jenni, ein renommierter Teilchenphysiker des CERN. Er war bis 2009 Projektleiter des ATLAS-Experiments. ATLAS ist der grösste Teilchendetektor des Large Hadron Collider (LHC), des wichtigsten Arbeitsinstruments der Forscherinnen und Forscher am CERN.

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Der weltweit grösste Teilchendetektor ATLAS ist 46 Meter lang, 25 Meter hoch und 25 Meter breit. Er wiegt 7000 Tonnen © CERN

Leistungsstärkster Teilchenbeschleuniger der Welt

Ein Teilchenbeschleuniger ist ein Gerät, in dem Teilchen in gerader Linie oder in einer Umlaufbahn auf grosse Geschwindigkeiten beschleunigt werden und dann zusammenprallen. Das Ergebnis der Kollisionen wird anschliessend von Detektoren analysiert. Der am 10. September 2008 in Betrieb genommene LHC ist der leistungsstärkste Teilchenbeschleuniger, der je gebaut wurde. Sein unterirdischer Ring ist 27 Kilometer lang, und die von supraleitenden Magneten in der Bahn gehaltenen Teilchen erreichen nahezu Lichtgeschwindigkeit. Der geplante Nachfolger des LHC könnte unter dem Genfersee verlaufen.

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Der Ring des Large Hadron Collider (LHC) und seine vier Detektoren (ATLAS, CMS, Alice, LHCb) aus der Vogelperspektive. Am Ende des Sees liegt Genf © CERN

Dank dem LHC konnte 2012 das 1964 postulierte Higgs-Boson nachgewiesen werden. Das sogenannte Gottesteilchen wird mit dem Brout-Englert-Higgs-Feld in Verbindung gebracht, das vereinfacht gesagt den ganzen leeren Raum um uns herum und im All ausfüllt, so dass die Elementarteilchen Masse erhalten, wie zwei Physiker des CERN in einem kurzen Trickfilm auf Youtube erklären:

Das Higgs-Boson war das letzte Puzzleteil des in den 1970er-Jahren entwickelten Standardmodells der Teilchenphysik. Es beschreibt die Materieteilchen und drei der vier Grundkräfte des Universums – einschliesslich des Elektromagnetismus, aber ohne Gravitation. Es handelt sich also um eine bahnbrechende Entdeckung. Aber die Arbeit geht weiter.

«Eines der Ziele für die laufende Saison (der LHC wurde nach der Winterpause Ende März wieder hochgefahren, Anm. d. Red.) ist es, das Higgs-Boson besser abzugrenzen», sagt Peter Jenni. «Viele Fragen sind weiterhin offen, deshalb brauchen wir mehr Daten. Es könnte sein, dass es nicht nur ein Higgs-Teilchen gibt, sondern mehrere.» Gemäss dem Forscher hofft das CERN auf eine sieben- bis zehnfach grössere Datenmenge als 2015. Die Physiker befassen sich aber nicht nur mit dem Higgs-Teilchen: «Zahlreiche Bereiche der Grundlagenphysik werden gleichzeitig erforscht.»

Auf der Suche nach der dunklen Materie

Der LHC wird auch dazu verwendet, Theorien zu untersuchen, die vom Standardmodell abweichen, etwa die Theorie der Supersymmetrie. «Die Supersymmetrie ist sehr populär, da sie die Existenz eines direkt nach dem Urknall entstandenen Teilchens postuliert, das für die dunkle Materie verantwortlich sein könnte.» Die dunkle Materie ist der unsichtbare Stoff, der mit seiner Schwerkraft die Galaxien zusammenhält. «Mit der Energie des LHC können wir möglicherweise die Bedingungen schaffen, unter denen dieses Teilchen entsteht. Das ist eine unserer grössten Prioritäten.»

Vor kurzem gab es einen Hype um ein mysteriöses Teilchen: Ende Dezember 2015 gab das CERN bekannt, in den Daten der Detektoren ATLAS und CMS des LHC seien Unregelmässigkeiten festgestellt worden, die auf ein bisher unbekanntes Teilchen hinweisen könnten, das sechsmal schwerer ist als das Higgs-Boson. Medien und Wissenschaftler waren weltweit aus dem Häuschen. Peter Jenni winkt ab. «Was wir entdeckt haben, ist statistisch nicht signifikant. Wahrscheinlich verschwinden die Unregelmässigkeiten, sobald wir mehr Daten haben.»

Infografik CERN