© Foto: Fabian Biasio.

Was der Wald hergibt

Stefan Wiesner, auch bekannt als Hexer aus dem Entlebuch, kocht mit Steinen, Erde, Asche, Holz und sogar Ameisen.

Stefan Wiesner streckt die Hand aus. Eine dicke Ameise zappelt zwischen Daumen und Zeigefinger. «Ich verwende nicht die Insekten, sondern nur die Ameisensäure», erklärt er. Um an die wertvolle Substanz zu kommen, streift er ein Tuch über die Spitze des Ameisenhaufens. Die sechsbeinigen Tierchen geraten in Panik und sondern eine Flüssigkeit von «vorzüglicher Säure» ab. Sie erinnert an Zitrone und verleiht einer Sauce oder einem Dessert einen besonderen Geschmack.

Der Küchenchef verstaut das getränkte Tuch sorgfältig und setzt mit Trüffelhund Levy seinen Streifzug durch den Wald fort. Hier in den Wäldern und Mooren der UNESCO-Biosphäre findet der Luzerner Starkoch die Zutaten für seine Menüs, die Feinschmecker von nah und fern ins Entlebuch locken.

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Zutaten aus dem Unterholz

Stefan Wiesners schelmische Augen widerspiegeln die Neugierde und den Wunsch, die Welt mit seinen Sinnen zu erforschen – Eigenschaften, die ihn seit seiner Kindheit prägen. Wer hat als Kind nicht einmal Erde, ein Blatt eines Baumes oder – für die Mutigsten – eine Schnecke zum Mund geführt? Aus dieser Suche nach dem ultimativen Geschmackserlebnis hat der Koch eine Kunst gemacht. Unermüdlich durchforstet er das Unterholz und findet nicht nur Kräuter und Beeren. Er sammelt unzählige Moose und Flechten. Tannzapfen zum Räuchern von Fleisch. Steine, die er in einer Suppe ziehen lässt. Für ihn haben Bäume keine Geheimnisse mehr. Aus der Lärche gewinnt er aromatische Essenzen, aus dem Saft der Birke macht er eine raffinierte Sauce und Borkenasche verwendet er als Mehl für Brot. Holz, Torf, Heu, Farn: Was der Wald hergibt, wird von Stefan Wiesner kulinarisch verarbeitet.

Er selbst bezeichnet seinen Ansatz als «archaisch». Bisweilen mutet er mystisch an. Zum Beispiel, wenn er einen Teller voll Salz auf einen Lautsprecher stellt und die Kristalle mit einer Mozart-Symphonie beschallt. Oder wenn er bei einem Schneegestöber im Freien ein Feuer entfacht und die im Rauch schmelzenden Schneeflocken auffängt. Aus diesem Wasser bereitet er mit Knochen und Kräutern eine besondere Brühe. In seinen Augen ist die Vorgehensweise mindestens so wichtig wie die Zutat selbst. «Das Salz schmeckt zwar nicht anders, aber meine Küche wird besser», sagt Stefan Wiesner.

Er bleibt im Zentrum einer Lichtung stehen, beobachtet schweigend die Bäume und holt schliesslich einen kleinen Lautsprecher aus seiner Tasche. Dumpfe, regelmässige Töne erklingen zwischen den Tannen, wie das Klopfen eines Grünspechts. Die Aufnahme stammt von Wissenschaftlern der ETH Zürich, die die Geräusche von Baumstämmen mithilfe eines Stethoskops aufgezeichnet haben. «Das ist die Musik der Bäume», erklärt Wiesner. Er ist überzeugt, dass in den Bäumen unsichtbare Kräfte wohnen – einige nennen sie Elfen.

Nordische Küche im Trend

In der Zentralschweiz, wo man eher Landgasthöfe als Gastrolabors gewohnt ist, stösst Stefan Wiesner mit seiner alchemistischen Naturküche nicht nur auf Gegenliebe. Manche halten ihn für einen Spinner. Was ihn allerdings nicht davon abhält, die Grenzen des Geschmacks und des Essbaren auszuloten. Er kocht mit frischem Torf oder Heu und serviert Glace mit Aroma von rostigen Nägeln. Seine Beharrlichkeit zahlt sich aus. Das Fernsehen der deutschen Schweiz widmete ihm den Dokumentarfilm «Der Hexer aus dem Entlebuch». Diesen Übernamen trägt Wiesner gerne und nicht ohne Stolz. Der Film machte das Restaurant Rössli in Escholzmatt, ausgezeichnet mit 17 Gault-Millaut-Punkten und einem Michelin-Stern, weit über das Entlebuch hinaus bekannt.

Der Luzerner ist heute ein Star der experimentellen Küche. Seine radikale und bizarr anmutende Methode ähnelt jener anderer berühmter Köche im Ausland. Zum Beispiel jener des Italieners Massimo Bottura, bester Koch der Welt 2016 und 2018, der ein geschichtetes Dessert aus Schokolade und Gewürzen mit Foie gras und Hasenblut serviert – eine Reminiszenz an ein rennendes Langohr im Unterholz.

Stefan Wiesners Kochkunst gewinnt auch unter dem Einfluss der nordischen Küche an Beliebtheit. Deren prominentester Vertreter, René Redzepi vom Restaurant Noma in Kopenhagen, entzückt trendige Feinschmecker aus aller Welt. Wovon Wiesner seit jeher überzeugt ist, liegt mittlerweile im Trend: lokale, saisonale Produkte und der Wald als Inspirationsquelle. Der Luzerner Küchenchef fasziniert vor allem in der Deutschschweiz, aber auch jenseits der Landesgrenzen in Deutschland und in Österreich.

In der Romandie kaum bekannt

Der Ansatz von Stefan Wiesner basiert auf der Philosophie, nur saisonale Produkte zu verwenden, die aus lokalem und naturnahem Anbau stammen und innovativ zubereitet werden. Der ehemalige Geschäftsführer des Schweizer Kochverbands, Andreas Fleischlin, sieht in Stefan Wiesner einen Avantgardisten der Schweizer Gastronomie. «Seine Küche ist extrem komplex und inspiriert sich an zahlreichen Einflüssen. Manchmal beschäftigt er sich wochenlang mit einem einzigen Gericht», erklärt Fleischlin.

Stefan Wiesner findet, dass die Kochkunst die universelle Sprache par excellence ist. In der Westschweiz, also nur zwei Fahrstunden von Escholzmatt entfernt, stösst die Waldküche auf weniger Interesse. Ihr prominenter Vertreter aus der Deutschschweiz ist hier kaum bekannt.

Stefan Wiesner nimmt es gelassen: «Ich habe wenig Gäste aus der Westschweiz, einige jedoch gehören zu meinen treusten Kunden. Westschweizer gehen gerne gut essen. Deutschschweizer investieren eher in einen neuen Fernseher als in einen Restaurantbesuch», scherzt der Sternekoch. Er ist sich durchaus bewusst, dass seine Methode nicht jedermanns Geschmack entspricht. Andererseits wisse er sehr wohl, wo die Grenzen sind, um nicht alle Gäste zu vergraulen.

Trotz allem: Rösti mit Wurst

Stefan Wiesner kommuniziert mit Bedacht und pflegt sein Storytelling. Seinen Gästen bietet er Wald- und Wiesenspaziergänge an und seine Rezepte würzt er mit einer Prise Humor. So zum Beispiel, wenn er ein Menü rund um seinen alten Kleintransporter, einen Citroën HY, kreiert. Da heissen die einzelnen Gänge dann «Schraubenschlüssel», «Abgas», «Rückspiegel» oder «Unfall». Stefan Wiesner hat das Restaurant 1989 im Alter von 27 Jahren von seinen Eltern übernommen und legt Wert darauf, die Bodenständigkeit des Landgasthofs aufrechtzuerhalten. Neben den Gourmet-Menüs bekommt man deshalb im Rössli zu Escholzmatt auch immer einen günstigen Teller Rösti mit Wurst.

Seine klassische Kochlehre absolvierte der heutige Starkoch im Château Gütsch in Luzern. Doch schon bald wollte er die traditionelle Küche hinter sich lassen und sich der Kulinarik in der wilden Natur widmen. Heute vermittelt Stefan Wiesner sein Wissen angehenden Köchinnen und Köchen an der Natur-Akademie.

Der Artikel erschien ursprünglich im Januar 2017 in der Westschweizer Zeitung Le Temps – Céline Zünd

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