Törbel

Ein Schweizer Dorf schreibt zweimal Umweltgeschichte

Ein kleines Bergdorf im Oberwallis, unweit des Matterhorns, darf für sich beanspruchen, zweimal den Weg für Fortschritte im Umweltbereich bereitet zu haben. Den Anstoss dazu gaben die sorgfältig geführten Bücher der Gemeinde und eine kluge Bewirtschaftung seiner knappen Wasserressourcen.

Törbel liegt auf 1497 m ü. M. hoch über der Stadt Visp. Das Dorf und seine 481 Einwohner sind stolz auf die örtlichen Traditionen. Über 80 Prozent der heutigen Dorfbewohnerinnen und -bewohner wurden in der Gemeinde geboren. 

«Stiera» – so wird die Dorfbevölkerung in Törbel genannt. Niemand weiss weshalb, «aber in Törbel lebten früher viele starke Leute, die zwischendurch das Faustrecht anwendeten», vermutet Gemeindepräsident Urs Juon mit einem Augenzwinkern. Ihren Platz in der Forschungsgeschichte verdanken die Menschen von Törbel allerdings ihrer Fähigkeit, Probleme mit friedlichen Mitteln zu lösen.

 

 

Törbel

Die sorgfältig geführten Bücher der Gemeinde, die 350 Jahre abdeckten, bewogen den amerikanischen Anthropologen Robert McCorkle Netting 1970–1971 zu einem Forschungsaufenthalt in Törbel. Aufmerksam auf das Dorf wurde er durch den Schweizer Agronomen und Ethnografen Friedrich Gottlieb Stebler, der über das Vispertal publiziert hatte.

1981 veröffentlichte Netting Balancing on an Alp, eine ethnologische Studie über die Lebensverhältnisse im Oberwalls, die gestützt auf die historischen Aufzeichnungen der Gemeinde das ökologische Gleichgewicht zwischen der Dorfgemeinschaft und ihrem natürlichen Umfeld nachzeichnet.

Balancing on the Alps
Balancing on an Alp

Netting würdigte die Kleinlandwirtschaft für ihre energieeffiziente, extensive und gelungene Anpassung an die Umweltbedingungen. Seine Arbeit trug dazu bei, die Kulturökologie als wissenschaftliche Disziplin zu etablieren. Bis dahin hatte sich das US-Umweltmanagement vor allem auf die Erhaltung der Wildnis konzentriert. Demgegenüber richtete Netting den Fokus auf das besiedelte Umfeld und zeigte auf, dass der Haushalt die effektivste Wirtschaftseinheit in der Landwirtschaft ist. Regierungen, meinte er, sollten sich nicht in die Produktionsentscheide der Bauern einmischen. Sein neues Paradigma veränderte die Umweltpolitik und -praktiken von Regierungen und Behörden auf der ganzen Welt.

Die erste Wirtschaftsnobelpreisträgerin untersuchte die Walliser Suonen

In den 1980er-Jahren hielt sich Elinor (Lin) Ostrom, die sich selbst gerne als «Armeleutekind aus Kalifornien» bezeichnete, zu Forschungszwecken in Törbel auf. Im Dorf lernte sie die genossenschaftliche Bewirtschaftung der historischen Bewässerungskanäle – im deutschsprachigen Oberwallis Suonen, im französischsprachigen Unterwallis Bisses genannt – kennen, die bis ins Jahr 1483 zurückreicht.

Elinor Ostrom
Elinor Ostrom
© Indiana University 

Zusammen mit ihrer Forschung aus anderen Teilen der Welt bildete Ostroms Fallstudie von Törbel später den Kern ihrer Theorie zu Gemeingütern (common pool resources, CPR), auch Allmende genannt. Obschon sie nicht Wirtschaftswissenschaftlerin, sondern Politologin war, erhielt sie für ihre Arbeiten 2009 den Wirtschaftsnobelpreis. Sie ist bis heute die einzige Frau, die mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurde.

Aus ihren Analysen leitete Elinor Ostrom acht «Gestaltungsprinzipien» für erfolgreiche Formen der genossenschaftlichen Selbstorganisation ab. Demnach müssen die Nutzerinnen und Nutzer gemeinsamer Ressourcen insbesondere die gleichen Rechte und Pflichten bei der Bewirtschaftung der verfügbaren Ressourcen haben. Eine staatliche Aufsicht oder private Eigentumsrechte sind in diesem System nicht erforderlich.

Ostroms Erkenntnisse standen im Widerspruch zur damals vorherrschenden wirtschaftspolitischen Überzeugung von der «Tragik der Allmende» (nach einem Artikel des US-Ökologen Garrett J. Hardin von 1968), die postulierte, dass bei gemeinschaftlich genutzten natürlichen Ressourcen, für die es keine individuellen Eigentumsrechte gibt, die Gefahr übermässiger Ausbeutung besteht. Die Fischbestände werden überfischt, Wälder abgeholzt, Weideflächen verschwinden und der Boden wird bestellt, bis er nicht mehr fruchtbar ist. Der herkömmliche Ausweg war die staatliche Regulierung der Eigentumsrechte, ein Weg, den viele Länder nach dem Erscheinen der «Tragik der Allmende» beschritten.

Die Bewirtschaftung der Walliser Suonen zeigte, dass die staatliche Regulierung der Eigentumsrechte nicht die einzige Lösung ist. Die Wasserleitungen sind nicht in Privatbesitz, und als Gegenleistung für die Verrichtung von Unterhaltsarbeiten an einigen Tagen im Jahr hatte –und hat – jeder Anwohner Anrecht auf eine bestimmte Wassernutzung. Verstösse wurden streng geahndet, aber niemand hatte einen Beweggrund, mehr zu nehmen als ihm oder ihr zustand.

Direkte Demokratie in der Praxis

Die Bewirtschaftung der Suonen ist ein erstaunliches Beispiel dafür, wie direkte Demokratie in der Praxis funktioniert. In anderen Walliser Ortschaften kam es häufig zu Streitigkeiten um das kostbare Nass, auf das Viehhalter, Winzer und Obst- und Gemüsebauern im tiefer gelegenen Rhonetal gleichermassen angewiesen waren.

Die Bewohner von Törbel hingegen hatten das richtige Rezept gefunden, um Angebot und Nachfrage im Lot zu halten. Da in früheren Zeiten kaum jemand lesen und schreiben konnte, war man häufig erfinderisch, wenn es darum ging, die Wassernutzungsrechte zuzuteilen. In Törbel durfte mit der Entnahme des Wassers begonnen werden, sobald die ersten Sonnenstrahlen auf das Weisshorn fielen. Andernorts wurden bis mindestens 1950 vergleichbare Methoden angewendet.

Guy Bratt, ein ehemaliger britischer Konsul in Genf und grosser Fan der Suonen, führt deren plötzliches Auftauchen in mittelalterlichen Aufzeichnungen auf die Rentabilität des Viehexports nach Italien zurück, die dazu führte, dass im Wallis statt der traditionellen Ziegen und Schafe vermehrt Kühe gehalten wurden. Sein kurzes Buch The Bisses of Valais ist nach wie vor der beliebteste Führer über dieses traditionelle Wasserbewirtschaftungssystem.

springeri bisse
Die Springeri liegt im Gemeindegebiet Törbel.
© Musée des Bisses

Woher stammen die Begriffe Bisse und Suon? Bratt fand bei seinen Nachforschungen keine befriedigende Erklärung. Eine internationale Konferenz über Bisses, die im Jahr 2010 in Sion stattfand, vermutete eine etymologische Verwandtschaft mit dem keltischen Bedu (verwandt mit dem deutschen Bett). Das Wort Suon, das erstmals um 1500 in Dokumenten auftaucht, ist möglicherweise mit dem Wort su (für Wasser) in der indoeuropäischen Ursprache Sanskrit verwandt.

In einer aktuellen deutschen Studie werden die Bisses/Suonen als «das zweifellos berühmteste Bewässerungssystem in Europa» bezeichnet. Laut einer Schätzung von 1994 gibt es noch 376 von ursprünglich 1748 dieser Wasserleitungen, je nachdem, wie sie gezählt wurden. Johannes Gerber aus Meiringen listet in seinem Inventar 600 Suonen auf. Er weist auch darauf hin, dass die Suonen-Arbeiter ihre eigene Heilige haben: Margarethe. Die Suonen sind bei Touristen und Einheimischen gleichermassen beliebt. Viele sind durch leicht begehbare Pfade erschlossen und laden zu abwechslungsreichen Wanderungen in schöner Landschaft ein. 

Das Rhonetal ist sehr niederschlagsarm (im Schnitt weniger als 600 Millimeter pro Jahr). Laut Prognosen der Universität Lausanne dürfte die Niederschlagsmenge bis 2050 um 10 Prozent sinken, falls die erwartete Erwärmung des Klimas um 2 Grad eintritt.

Törbel gehört heute zu den schützenswerten Ortsbildern von nationaler Bedeutung. Der vor über 30 Jahren gegründete Verein «Urchiges Törbel» setzt sich für die Erhaltung und Renovierung von Ahnengütern im Bergdorf ein. Der Verein unterhält ein Museum und acht Gebäude, die den jungen Menschen und Besuchern zeigen, wie die Dorfbewohner früher gelebt haben (vier Kinder in einem Bett, zum Beispiel). 

Die Suonen haben ihr eigenes Museum in der Maison Peinte, einem Haus aus dem 17.Jahrhundert in Ayent oberhalb Sion.

Mehr über die Geschichte der Suonen erfahren Sie hier.