Sophie Lavaud auf dem Gipfel des Everest

Schweizer Bergsteigerin erobert den Himalaya

Sophie Lavaud, die in Höhenbergsteigerkreisen den Spitznamen «The 88’000 Lady» trägt, hat als erste Schweizerin elf Achttausender im Himalaya-Gebirge bestiegen. Seit Dezember 2019 gehört das alpine Bergsteigen zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO. Porträt einer Frau, die hoch hinaus will.

Sophie Lavaud ist in Lausanne geboren und zwischen Mailand und Hochsavoyen aufgewachsen. Mit der Bergwelt ist sie dank des Chalets ihrer Eltern in Chamonix seit ihrer frühsten Kindheit vertraut. «Mein Vater fuhr mit der Familie in die Berge. Ich habe mit vier Jahren Skifahren und Tanzen gelernt», erzählt die Schweizerin, die auch die französische und kanadische Nationalität besitzt. Als Kind träumte sie von einer Karriere als Balletttänzerin. «Eine Bauchfellentzündung und Rückenprobleme zwangen mich zum Aufhören. Während eines Jahres trug ich ein Korsett. Als ich wieder einsteigen wollte, war der Rückstand zu gross, um eine Karriere als Tänzerin ins Auge zu fassen.» Mit einer naturwissenschaftlichen Matura in der Tasche entschied sie sich für ein Studium der Betriebswirtschaft. Ihre berufliche Laufbahn startete sie bei einem Luxushotel, in dem sie zur Verkaufs- und Marketingmanagerin aufstieg. Nach zwölf Jahren wechselte sie in die Kosmetikbranche und gründete anschliessend mit ihrem Bruder eine Event-Firma. Ihre Ferien verbrachte sie bereits damals ausschliesslich in den Bergen. «Die Freude an Ausdaueraktivitäten habe ich von meiner Mutter, die ihr Leben lang gewandert ist. Sie hat mich dazu inspiriert, auch andere Gebirge als die Alpen zu entdecken», sagt Sophie Lavaud. 2004 bestieg sie den 4810 Meter hohen Montblanc, den höchsten Berg der Alpen. Bei dieser Besteigung machte es klick. Sie wollte höher hinaus.

Kangchenjunga

Ihr Ziel: 8000 Meter 

Fortan verbrachte sie ihre Ferien ausserhalb von Europa. Südamerika wurde zu ihrem Übungsfeld. Dort kumulierte sie Höhenmeter und erreichte auch einen Siebentausender. 

Sophie Lavaud
Mit 51 Jahren ist Sophie Lavaud mit ihren elf Achttausender-Besteigungen die erfolgreichste Himalaya-Bergsteigerin der Schweiz. 
© Bertrand Carlier

 

Während ihre Firma in der Wirtschaftskrise zu Fall kam, stieg sie alpinistisch auf. 2012 nahm sie an der ersten 8000er-Expedition in den Himalaya teil. Organisiert wurde sie von einem Schweizer Unternehmen. Ziel war der auf tibetischem Boden liegende 8027 Meter hohe Shishapangma. «Man braucht mindestens zwei Monate, um ein solches Abenteuer vorzubereiten. Nachdem mein Bruder und ich das Geschäft aufgegeben hatten, fand ich endlich Zeit dafür», erklärt sie. Der Körper braucht eine Akklimatisierungszeit, um die Strapazen bewältigen zu können. «Bergbesteigungen im Himalaya sind etwas Besonderes. Der Sauerstoffmangel ist die grösste Schwierigkeit. Ab 7500 Meter beginnt die Todeszone. In diesen Lagen ist nichts einfach. Der Berg ist immer stärker als der Mensch. Man muss diesen grossen Gipfeln also viele Wochen widmen.» 

8'400 m
An den Steilhängen des Kangchenjunga, dessen Gipfel sie im Mai 2019 erreichte.
© Dawa Sangay Sherpa

 

In den ersten Tagen nach ihrer Ankunft traf Sophie Lavaud die übrigen Expeditionsteilnehmenden. Nach verschiedenen Formalitäten wie dem Einholen einer Aufstiegsgenehmigung oder der Hinterlegung von Geld für eine mögliche Hubschrauberrettung* richtete sich die rund zwanzigköpfige Gruppe für die Akklimatisierung im Basislager auf 5700 Meter ein. Ihr Körper hatte anfänglich Mühe, sich anzupassen. Sie musste mehrere Tage im Camp bleiben. In ihrem Rucksack hatte sie Trockenfleisch und Schweizer Schokolade dabei. «Ich freute mich auf meine Schokolade, aber die Verpackung war leer. Mit Erstaunen entdeckte ich, dass Nagetiere in solchen Höhen leben können! Seither nehme ich keine Schokolade mehr mit», erklärt die 51-jährige Himalaya-Bergsteigerin. «Nach mehrwöchiger Akklimatisierung und einem gescheiterten Besteigungsversuch wegen schlechter Wetterverhältnisse erreichten wir schliesslich den Gipfel. Für die letzten 700 Höhenmeter brauchten wir elf Stunden.» Elf Tage später wiederholte sie ihren Exploit mit der Besteigung des Cho Oyu. 

Die 14 Achttausender im Visier 

Seither hat Sophie Lavaud neun weitere Gipfel im Himalaya-Gebirge zwischen Tibet, Nepal und Pakistan erklommen, darunter auch den Mount Everest. Sie hält heute den Rekord, als einzige Schweizerin den K2, den Annapurna und den Kangchenjunga bestiegen zu haben. «Was mich hauptsächlich antreibt, ist die Gipfelbesteigung. Aber um dies zu erreichen, muss man den Berg respektieren, sich wohl fühlen im Basislager und in fernen Ländern. Man braucht Abenteuerlust und die Fähigkeit, die richtigen Wetterslots abzuwarten. Geduld und Entbehrung sind die wichtigsten Voraussetzungen für solche Leistungen», weiss die Höhenalpinistin. 

Sophie Lavaud K2
Auf dem Weg zum letzten Basislager vor der Besteigung des Gipfels des K2 (2018). Die von den Sherpas befestigten Seile ermöglichen die Besteigung der Steilhänge. 
© Sophie Lavaud


Zurück in Europa hält sie regelmässig Vorträge über ihre Expeditionen und sucht Sponsoren, um ihre Reisen zu finanzieren. Seit 2014 lebt sie von diesen Expeditionen. «Ich kümmere mich allein um die Finanzierung meiner Projekte, aber während meiner Expeditionen werde ich immer von einem Team begleitet. Zu ihren engsten Vertrauten gehören ihr nepalesischer Reisebegleiter Dawa Sangay Sherpa und Yan Giezendanner, ein Meteorologe aus Chamonix.

Dawa Sangay Sherpa
Sprung von Dawa Sangay Sherpa, Sophie Lavauds nepalesicher Freund und Expeditionsbegleiter, im Hintergrund der Dhaulagiri, den sie im September 2019 gemeinsam bestiegen. 
© Sophie Lavaud

 

Ich denke, dass ein Anführer nichts erreicht, wenn er allein unterwegs ist, er braucht ein Team, um erfolgreich zu sein. Ich bin keine Performerin, sondern eine Followerin, und es sind die sich ergänzenden Fähigkeiten jedes Einzelnen, die bei einer Gipfelbesteigung ausschlaggebend sind», sagt Sophie Lavaud, die auch Botschafterin von Terre des hommes und eines auf die Rettung von Lawinenopfern spezialisierten Unternehmens ist. «Beide Aufgaben sind wichtig für mich, weil sie mir erlauben, zur Ausbildung von Menschen in Nepal beizutragen. Das Land ist nach der Schweiz zu meiner zweiten Heimat geworden.» Im Frühling 2020 kehrt Sophie Lavaud nach Nepal zurück, um den Dhaulagiri, den Nanga Parbat und den Lhotse zu besteigen, die letzten Achttausender, die in ihrem Erfolgsausweis noch fehlen. Wenn es ihr gelingt, wäre sie die vierte Frau der Welt, die die vierzehn Achttausender unseres Planeten bestiegen hat.

*Viele nepalesische Helikopterpiloten wurden in der Schweiz von der Air Zermatt ausgebildet.