Das Werbeplakat um 1900

Henri Nestlé: Entstehung eines Weltkonzerns

Der Apotheker aus Frankfurt schlug sich in Vevey als mittelmässig erfolgreicher Kleinunternehmer und Tüftler durch. Doch dann stiess er auf eine Marktlücke, die märchenhafte Gewinne versprach: Milchpulver für Säuglinge, hergestellt aus besten Schweizer Zutaten.

Öl, Knochenmehldünger, Essig, Likör, Bleiweiss, Senf, Mineralwasser, Limonade, Flüssiggas und Zement – das ist nur ein kleiner Auszug aus der Produktpalette, die der gelernte Apotheker Henri Nestlé (1814-1890) in Vevey herstellte und vertrieb. Ständig war er auf der Suche nach neuen Einnahmequellen, nach jenen Gütern, die eine städtische Gesellschaft auf dem Weg in die Moderne verlangte. Doch trotz unablässigem Arbeitseinsatz und Risikofreude: Reich wurde er damit nicht. Weshalb Nestle sein Geschäft im waadtländischen Vevey aufbaute, darüber spekulieren seine Biografen. Auch über den Beginn seiner Karriere sind nur wenige Fakten bekannt: Heinrich Nestle, wie sein Taufname lautet, wurde in Frankfurt am Main geboren und absolvierte in seiner Heimatstadt eine Apothekerlehre. 

Henri Nestlé: Erfinder, Unternehmer, Nahrungsmittelfabrikant

Lehr- und Wanderjahre

Nach dem Abschluss 1834 verliert sich seine Spur vorübergehend, er schien zu Lehr- und Wanderjahren ins nahe Ausland aufgebrochen zu sein. Fünf Jahre später legte er in Lausanne die Zulassungsprüfung zum «Commis-Pharmacien», zum Drogisten, ab und fand eine erste Anstellung in Vevey. 1843  folgte der Schritt in die Selbständigkeit.

Wahlheimat mit Tücken

Nestle lernte rasch Französisch und passte seinen Namen dem neuen Sprachraum an – aus Heinrich Nestle wurde Henri Nestlé. Und doch war die Eingliederung mit manchen Hindernissen versehen. Jahrzehntelang lebte er unter dem Druck einer bloss temporären Wohn- und Aufenthaltserlaubnis. Auch wirtschaftlich stand er auf schwankendem Fundament: Seine umfangreiche, oft wechselnde Produktepalette liess keine rationellen Abläufe zu, seine kleingewerblichen Produktionsstätten waren noch weit entfernt von industrieller Massenproduktion. 

Milch, Brot und Zucker: Kindermehl in der Dose

Der Durchbruch kam spät und unerwartet – Nestlé war bereits 53 Jahre alt.  Wieder einmal auf der Suche nach einer neuen Haupteinnahmequelle stiess er auf die ungelösten Probleme im Bereich der Säuglingsernährung. Die Kindersterblichkeit war damals immer noch sehr hoch; in einem gesunden, nährstoffreichen Ersatz für Muttermilch sah man das Potenzial, unzählige Babies zu retten. Nestlé studierte bestehende chemische Analysen von Muttermilch und begann in seinem Labor mit Milch, Brot und Zucker zu experimentieren; er kondensierte, vakuumierte, mahlte und trocknete, bis er auf die exakt richtige Mischung stiess. 1867 kam sein «Kindermehl» auf den Markt. 

Eine Kindermehldose aus der Anfangszeit
Eine Kindermehldose aus der Anfangszeit.

Die Produktion nimmt Fahrt auf

Nestlé fütterte in der Testphase einen wenige Tage alten, völlig entkräfteten, dem Tod nahen Säugling mit der neuen wasserlöslichen Mischung. Das Kind erholte sich binnen kurzem und die Kunde von dem «Wunderprodukt» verbreitete sich in Windeseile rund um den Genfersee. Hebammen, Mütter und Kindermädchen kauften das Produkt und waren begeistert. Und dann stürzten die Bestellungen wie eine Lawine auf Nestlé ein: 1868 wurden 8'600 Büchsen produziert, 1874 schon 670'000 und ein Jahr später über eine Million. Von Vevey aus unternehmen die Nestlé-Produkte ihren globalen Siegeszug. Schon 1874, sieben Jahre nach der Einführung, verfügten weltweit 18 Länder über ein eigenes Vertriebsnetz und Nestlé-Agenten vor Ort.

Arbeiterinnen füllen das Milchpulver in Büchsen ab.
Arbeiterinnen füllen das Milchpulver in Büchsen ab.
Auch die Büchsen werden direkt vor Ort produziert.
Auch die Büchsen werden direkt vor Ort produziert.

Marketing-Geniestreich: Das Logo mit dem Vogelnest

Innerhalb weniger Jahre gelang es Henri Nestlé, eine Weltmarke mitsamt eigenem Logo zu kreieren: Als Basis diente das Familienwappen der Nestles (schwäbisch für ‹Nest›) mit einem Vogel in seiner Behausung. Um einen – emotionalen – Link zu seinem Milchpulver zu schaffen, setzte Nestlé drei hungrige Jungtiere mit offenen Schnäbeln ins Nest, die von der Mutter gefüttert werden.

Das Nestlé-Logo in der Ur-Version.
Das Nestlé-Logo in der Ur-Version.

Eine Million für das Lebenswerk

Henri und seine Frau Clémentine, die unter der eigenen Kinderlosigkeit litt, verbrachten jede verfügbare Minute auf dem Fabrikgelände. Nach acht Jahren war es offenbar genug. 1875 verkauft Nestlé die Fabrik für eine Million Schweizer Franken – im Kaufpreis inbegriffen waren auch sein Name, das Vogelnest-Logo und seine Unterschrift, mit der er für die Qualität seiner Produkte bürgte. Seinen Lebensabend verbrachte Nestlé in grossem Wohlstand und im Stile eines Landadeligen, immer weiss gekleidet, häufig in der Kutsche unterwegs in den Weinbergen und am Seeufer – im Sommer in Glion, im Winter in Montreux. „Das Klima ist ausgezeichnet, der Lorbeer kommt noch gut fort, die Aussicht prachtvoll, viele Wirtshäuser, Telegraf, Gasbeleuchtung, Post repräsentieren dort oben die moderne Zivilisation ohne deren Nachteile; kurz, ich glaube nicht, dass es leicht einen schöneren Fleck Erde gibt, um sein Leben in Ruhe zu geniessen“, schrieb Nestlé über seinen Alterswohnsitz Glion auf einer Terrasse hoch über dem Genfersee. 
Aus seinem Vermächtnis ist bekanntlich ein Nahrungsmittelkonzern mit globaler Präsenz geworden. Der Nestlé-Hauptsitz befindet sich auch heute noch in Vevey. 2016 wurde zum 150-jährigen Firmenjubiläum ein Museum auf dem ursprünglichen Fabrikgelände eröffnet. Das «Nest» ist als einladende Erlebniswelt gestaltet, als Hommage an den Pionierunternehmer und Gründer Henri Nestlé.

Milch wird von lokalen Bauern auf das Fabrikgelände geliefert, um 1900.
Milch wird von lokalen Bauern auf das Fabrikgelände geliefert, um 1900.